Donnerstag, 3. September 2015

Wo war der Urknall? - Oder: Warum sich die Welt vielleicht doch um dich dreht

"The universe has many different centers as there are living beings in it."
("Das Universum hat viele verschiedenen Mittelpunkte, gibt es doch lebendige Wesen darin.")
Diesen Satz formulierte Alexander Solzhenitsyn vermutlich zwar eher basierend auf gesellschaftlichen oder psychologischen Gesichtspunkten, aber warum sollten wir nicht tatsächlich die Frage stellen: Wo ist der Mittelpunkt des Universums? Wo hat der Urknall stattgefunden? Die Antwort wird überraschend sein!

"Akzeptiert man erst das Universum als etwas, das in ein
unendliches Nichts expandiert, welches wiederum etwas ist,
fällt einem das Tragen von Gestreiftem mit Kariertem leicht."
- A. Einstein
Das Universum hat ja mit dem Urknall begonnen und dehnt sich seither aus. Da es im Allgemeinen nun selten Sinn macht, entweder nur einen Zeitpunkt und keinen Ort anzusprechen oder umgekehrt (Sätze, wie z.B. "Ich war gestern um 10 Uhr." sind ohne zusätzliche Angaben immerhin sehr entbehrlich!), drängt sich natürlich die Frage auf, wo der Urknall vor 13,8 Milliarden Jahren stattgefunden hat. Passierte er irgendwo in den Tiefen des Alls, völlig fern von jedem Ort, an den ein Mensch schon jemals ein Auge geworfen hat? Oder war bei der Entstehung des Kosmos doch irgendein christliches Element im Spiel und es entsprang dem Sternbild Jungfrau? Oder hat Solzhenitsyn vielleicht Recht und der Urknall fand in jedem Einzelnen von uns statt?

Faszinierenderweise lautet die Antwort "ja" - und zwar auf alle soeben gestellten Fragen!
In Kürze werde ich verständlich machen, wie das möglich ist (ich habe ein paar verdeutlichende Grafiken erstellt), doch vorerst müssen wir uns kurz erinnern, woher wir eigentlich wissen, dass das Universum einen Anfang hat.


Im Jahr 1929 stellte Edwin Hubble (1) fest, dass sich fast alle Galaxien von uns entfernen. Herausfinden konnte er das mit Hilfe von spektroskopischen Messungen am Licht entfernter Galaxien durch die Verschiebung der Spektrallinien aufgrund des Doppler-Effekts. Noch verrückter: Je weiter entfernt Galaxien sind, desto schneller entfernen sie sich von uns.
Die Abstände zwischen Galaxien bzw. Galaxienhaufen werden im Universum also immer größer - das Universum dehnt sich aus.

Das heißt aber gleichzeitig, dass, wenn man in der Zeit gedanklich rückwärts geht, das Universum immer kleiner wird. Je weiter man in die Vergangenheit reist, desto kleiner wird es; bis man schließlich an einem Zeitpunkt angelangt ist, an dem sich das gesamte Universum in einem winzigen Punkt befindet. Wir sind nun an einem Zeitpunkt angelangt, der 13,8 Milliarden Jahre in der Vegangenheit liegt - der Zeitpunkt des Urknalls (2).

Wir schauen also ins Weltall hinaus und sehen, dass sich das meiste Zeug von uns wegbewegt, und schließen daraus auf den Urknall. Aber warte mal, wenn sich alles von mir wegbewegt, heißt das dann etwa, dass der Urknall direkt bei mir stattgefunden hat? Bin ich der Mittelpunkt des Universums?
Nun ja, was soll ich sagen... - Scheint so, oder?

Doch was, wenn ich dir versichere, dass auch ich alles im Universum sich von mir entfernen sehe? Und was würdest du sagen, wenn wir unser Experiment in einem halben Jahr wiederholten, wenn die Erde sich Millionen von Kilometern weiterbewegt hat, und wir beide jeweils wieder das Gleiche feststellten - nämlich, dass wiederum jeder von uns sich selbst als den Mittelpunkt des Universums bezeichnen würde? Wie kann jeder, egal wo er sich im Universum befindet, in den Himmel schauen und messen, dass sich alles von ihm wegbewegt? Kann jeder immer und überall am Ort des Urknalls sein?

Vielleicht mag das alles noch verwirrend und unmöglich erscheinen, doch die Widersprüche werden sich bald auflösen! Die Erklärung ist erstaunlich simpel.

Um wirklich sehen zu können, an welchem Ort der Urknall stattgefunden hat, müssten wir uns außerhalb des dreidimensionalen Raums begeben - ganz ähnlich wie beim Suchen des Zentrums eines Luftballons, wo wir auf der Gummioberfläche auch niemals fündig werden würden (3). Sich aus dem dreidimensionalen Raum hinauszubefördern, geht leider nicht - nicht einmal gedanklich. (Wir können es uns einfach nicht vorstellen.)
Doch können wir uns einfach ein niederdimensionaleres Beispiel zurechtlegen, das wir dann auf unser 3D-Universum übertragen können: Eine zweidimensionale Fläche, die wir von außen betrachten.

Zur Veranschaulichung habe ich ein paar Grafiken erstellt. Im folgenden Bild sehen wir Punkte, die regelmäßig über unsere zweidimensionale Fläche verteilt sind. (Die Regelmäßigkeit ist durchaus repräsentativ für das Universum, da dieses auf großen Skalen äußerst homogen ist.) Die Punkte stellen Objekte im Universum dar, z.B. Galaxien. Dabei zeigt die linke Hälfte unser 2D-Universum zu einem Zeitpunkt t1, die rechte zu einem Zeitpunkt t2, wobei t2 größer ("später") ist als t1. Man sieht deutlich, dass sich dieses Universum im Laufe der Zeit ausgedehnt hat. Alle Entfernungen zwischen Punkten haben zugenommen.

Ein zweidimensionales, modellhaftes Universum (links).
Die rechte Hälfte stellt einen Schnappschuss dieses expandierenden Universums zu einem späteren Zeitpunkt dar.

Um die Dynamik besser sichtbar zu machen, legen wir nun die rechte Hälfte über die linke. Die schwarzen Punkte existieren nach wie vor zum Zeitpunkt t1 (z.B. "jetzt"), die weißen zu t2 ("in der Zukunft"). Wir nehmen an, dass die Bewohner des Planiversums am zentralen Punkt wohnen. Für sie ändert sich lokal mit der Zeit nichts. Also platzieren wir die rechte Bildhälfte so, dass die mittleren Punkte deckungsgleich sind. Wie erwartet sehen die Bewohner des zentralen Punktes alle anderen Punkte sich entfernen.

Übereinandergelegte Schnappschüsse des 2D-Universums zu verschiedenen Zeiten aus der Sicht des zentralen Punktes.
(Schwarze Punkte existieren in der Gegenwart, weiße in der Zukunft.)

Doch was beobachten die Bewohner eines anderen Punktes im selben Universum? Das lässt sich einfach veranschaulichen - verschieben wir einfach die Ebene der weißen Punkte, wobei die Abstände zwichen den Punkten gleich bleiben:

Übereinandergelegte Schnappschüsse des 2D-Universums zu verschiedenen Zeiten aus der Sicht eines anderen Punktes.
(Schwarze Punkte existieren in der Gegenwart, weiße in der Zukunft.)

Oha! - Auch die anderen Bewohner sehen ein Universum, das sich von der eigenen Perspektive aus gesehen gleichmäßig ausdehnt, wobei das Zentrum der Ausdehnung am eigenen Ort zu sein scheint.

Weil es Spaß macht, habe ich noch ein paar andere Möglichkeiten durchgespielt. Seht selbst:




Das Zentrum der Ausdehnung und somit der Ort, an dem der Urknall passierte, ist also an jedem Ort im Universum zu jeder Zeit. Das gilt analog für unser dreidimensionales Universum!

Grund für dieses kuriose Phänomen ist die Tatsache, dass beim Urknall Zeit und Raum an sich entstanden sind. Diese Raumzeit war anfangs in einem winzigen Punkt vereint und hat sich im Laufe der Evolution des Universums aufgeblasen. Die Frage, wo der Urknall stattgefunden hat, ist also relativ sinnlos, da es vor dem Urknall keinen Raum und keine Zeit gegeben hat. Da der gesamte dreidimensionale Raum am Anfang in einem einzigen Punkt vereint war, kann man durchaus behaupten, der Urknall habe überall im Universum stattgefunden. Genauso könnte man aber auch sagen, der Urknall habe nirgends stattgefunden. Es macht für praktische Zwecke keinen Unterschied.

Wenn ihr euch das nächste Mal klein und unbedeutend fühlt, schaut in den Himmel und ruft euch in Erinnerung, dass ihr (zumindest für euch) der Mittelpunkt des Universums seid.
Und solltet ihr in Zukunft jemandem begegnen, der sich zu sehr so benimmt, als würde sich die Welt um ihn drehen, zieht in Betracht, dass dieser das Konzept der Hubble-Expansion vielleicht nicht vollständig verstanden hat, und verweist ihn auf meinen Blog!




Bemerkung: Die hier beschriebene Hubble-Expansion hat in erster Linie noch nichts mit der beschleunigten Expansion des Universums zu tun, die vor nicht allzu langer Zeit eingesetzt hat und mit der "Dunklen Energie" in Verbindung gebracht wird.
Außerdem: Der Ausdruck "Mittelpunkt des Universums" bezieht sich in diesem Artikel auf das Zentrum des "sichtbaren Universums", welches nicht notwendigerweise mit jenem des gesamten Universums identisch sein muss.


Fußnoten:
(1) Hubble wird meist als der alleinige Finder des "Hubble-Gesetzes" bezeichnet, obwohl Georges Lemaître bereits 1927 die besagte Proportionalität zwischen Rezessionsgeschwindigkeit und Abstand von der Erde gefunden hatte.

(2) Hubbles Beobachtung und diese Überlegungen reichen streng genommen nicht aus, um daraus auf den Urknall schließen zu können. Es könnte ja auch sein, dass sich all die Materie vor 13,8 Gigajahren zwar in einem sehr kleinen "Volumen" befand, sich aber nicht in einem "Punkt" traf, wie es für den Urknall, wie wir ihn kennen, notwendig gewesen wäre. Doch die Hubble-Expansion des Universums legt das Urknall-Modell nahe und es gibt zahlreiche andere Beobachtungen, welche jeden Zweifel am Urknall als Anfangszustand des Universum praktisch beseitigen (z. B. die kosmische Hintergrundstrahlung oder die Häufigkeiten der Elemente im Universum,...).

(3) Tatsächlich gibt es eine weit verbreitete Methode zur Beantwortung unserer Urknall-Frage, die einen Luftballon als Analogie nimmt. Ich werde hier aber eine andere Erklärung geben, die, meiner Meinung nach, viel eindrucksvoller ist.

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